Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften

Jacques-Marie Emile Lacan

    1927–1931 Studium der Geistes- und Hirnkrankheiten am Krankenhaus Sainte-Anne in Paris

    1930 Zweimonatiges Praktikum im Zürcher Burghölzli

    1932 Dissertation „Von der paranoischen Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit“ (eine Falldarstellung zum Verfolgungswahn)

    Ab 1934 arbeitet L. als Psychiater und Neurologe in Paris

    1953 wird er aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen und gründet mit seinen Getreuen eine neue analytische Vereinigung, die „Société française de la psychoanalyse“ (SFP)

    1964 gründet er die „École Freudienne de Paris“

Jacques-Marie Emile Lacan wird 1901, ein Jahr nach Freuds Veröffentlichung der „Traumdeutung“, in Paris geboren. Im Laufe seines Lebens arbeitet er als Psychiater, Schriftsteller und Psychoanalytiker, der die Schriften Sigmund Freuds neu interpretiert und radikalisiert. Er gehört zu den originellsten und gleichzeitig umstrittensten Vertretern seines Fachs, als ein Denker im Spannungsfeld von Philosophie, Sprachwissenschaft und Psychoanalyse. Indem er seine neue Form der Psychoanalyse auch auf literarische Texte (etwa von Edgar Allan Poe) anwendet, steigt sein Einfluss weit über das Feld der Psychiatrie hinaus und prägt vor allem den französischen Poststrukturalismus.
L. studiert Medizin in Paris und promoviert im Jahr 1932 mit einer Arbeit über Paranoia, mit der er zum ersten Mal auf sich aufmerksam macht. Ein Exemplar dieser Arbeit schickt er Freud nach Wien. Freud bedankt sich höflich per Postkarte für die Zusendung. Es bleibt der einzige Kontakt zwischen L. und seinem großen Vorbild.

Ab 1934 arbeitet L. als Psychiater und Neurologe in Paris. Im Verlauf seiner Arbeit löst er sich von der traditionellen Freud-Rezeption und begründet eine eigene Schule, die sich linguistisch an Ferdinand de Saussure und anthropologisch an Claude Levi Strauss orientiert.

1936 betritt L. die Bühne der internationalen Psychoanalyse mit seinem Vortrag „Das Spiegelstadium“. Darin geht L. von der Hilflosigkeit des menschlichen Säuglings aus. Dieser habe nach der Geburt keine Verfügungsgewalt über seinen Körper, doch die visuelle Wahrnehmung ermögliche ihm eine imaginäre Identifikation mit seinem Spiegelbild, das ihm eine einheitliche Struktur seines Körpers suggeriere. Diese Erfahrung der Einheitlichkeit des Körpers werde als beglückend erlebt. Durch das Spiegelstadium entstünden dann jene Vorstellungen, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung eines Subjekts bestimmen und im Panzer einer entfremdeten Identität gipfeln. Bei diesem Vortrag kündigt sich bereits Lacans spezifische Arbeitsweise an, die die Psychoanalyse nicht vorrangig als Therapie, sondern wesentlich als philosophische Denkweise auffasst und auch seine tägliche Arbeit mit Patienten beeinflusst. Indem er alle äusseren Regeln der Analyse ignoriert, provoziert er die Fachwelt. Er empfängt seine Patienten, wann es ihm passt, hält sich nicht an Sitzungszeiten, telefoniert, während der Patient ihm seine Seele ausschüttet, schickt manche nach fünf Minuten wieder nach Hause und redet stundenlang mit anderen. L. wird zur Ordnung gerufen. Er gelobt Besserung, aber praktisch rückt er keinen Schritt von seinem Eigensinn ab. 1953 wird er aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen und gründet noch im selben Jahr eine neue analytische Vereinigung, „La Société française de la psychoanalyse“, kurz SFP. Er hält wöchentlich Vorlesungen, deren Inhalt die Auseinandersetzung mit den Texten Freuds ist. Er steht in starkem Gegensatz zur herrschenden Lehrmeinung und gilt als Querkopf. Unter Umgehung aller Regeln bildet er Analytiker aus und weigert sich strikt, den Geboten der Freudianer Folge zu leisten. 1964 gründet er die „École Freudienne de Paris“, die er bis zur Auflösung im Jahre 1980 leitet. Bei Kongressen formuliert L. bizarre Gedanken: „Wir glauben, mit unserem Gehirn zu denken, ich aber denke mit meinen Füßen. Ich habe genug Elektroenzephalogramme gesehen, um zu wissen, daß es keinen Schatten von einem Denken gibt.“ Solche Äußerungen entsetzten Linguisten wie Noam Chomsky und passen sehr gut in das „Eleganter-Unsinn“-Konzept, mit dem der Physikers Alan Sokal den poststrukturalisitischen Theorie-Jargon angreift. 1966 erscheinen Lacans Écrits, seine Schriften aus den vorangegangenen zwei Jahrzehnten. Dieses gewiss nicht leicht zu lesende Buch wird zu einem verlegerischen Erfolg.

L.’s wichtigstes Konzept ist seine Theorie des Unbewussten, das er als ein durch Sprache erzeugtes und in Form einer Sprache organisiertes System interpretiert, welches die drei Elemente des Imaginären, des Symbolischen und des Realen umfasst, wobei vor allem bei Letzterem oft unklar bleibt, was genau gemeint ist. Durch Rekurs auf die der psychoanalytischen Kur zugrundeliegende Vorraussetzung der prinzipiellen Ansprechbarkeit unbewußter Wünsche und Affekte, sowie durch eine genaue Analyse der Ausführungen Freuds über den Witz und die Fehlleistungen, zeigt L. entgegen der expliziten Auffassung Freuds auf, wie die Grundlagen der Psychoanalyse implizit die Annahme einer von vornherein sprachlichen Verfaßtheit des Unbewußten zu ihrer notwendigen Folge haben.

L. führt den Begriff des Imaginären ein (die Beziehung zum Du ist eine Illusion, eine Sinnestäuschung) sowie den Begriff der Symbolik (sie kommt im Wort, in der Sprache zum Ausdruck, durch deren Erwerb das Kind in unsere Kultur aufgenommen wird und die es ihm ermöglicht, an dieser Kultur teilzunehmen und die imaginäre Beziehung zu seiner Mutter zu durchbrechen). Das Sprechen verweist laut L. auf eine insistierende Abwesenheit, die sich nicht einholen läßt. Eben aufgrund einer unauflösbaren Nicht-Entsprechung von Signifikant und Signifikat, die ihrerseits im Primat vorgängig sinnloser Signifikanten gründet, kann weder der Sinn einer Rede noch die Rede selbst (das Sprechen) jemals abgeschlossen sein. Stets bleibt ein Rest an Ungesagtem bzw. Unsagbarem. Ebendieser uneinholbare, von der Sprache ausgegrenzte Rest, diese drängende Abwesenheit, ist – innerhalb gewisser Grenzen – dasjenige, was L. mit dem Begriff des Realen zu umreißen sucht.

Er gibt drei Charakterisierungen dieses schwer zu fassenden, weil von der Sprache ausgegrenzten Realen. L. bezeichnet es als das Unmögliche, als dasjenige, das immer am selben Platz ist (wobei darunter sowohl Körperliches als auch Zeitloses fallen kann), und als das Widerständige, wogegen man gleichsam immer wieder anrennt. Am Schnittpunkt des Imaginären, des Symbolischen und des Realen konstituiert sich letztlich das menschliche Subjekt. Das Subjekt ist für L. ein begehrendes Subjekt. Da das Objekt des Begehrens immer schon verloren ist, ist es ein grundsätzlicher Mangel, der das Begehren des Menschen aufrecht erhält.

Hatte de Saussure die Zeichentheorie strukturell reformuliert, indem er das Zeichen von seinem Referenten abkoppelte, so wird dessen Zeichenmodell bei L. in einer für poststrukturalistisches Denken typischen Weise radikalisiert. Die grundlegende Annahme ist dabei, dass das Signifikat des Begehrens nicht zur Sprache kommt, weil die Signifikanten der Sprache des Unbewussten wie in einem Zirkel aufeinander verweisen. Diesen Zirkulationsprozess der Signifikanten beschreibt L. mit Hilfe von Jakobsons Theorie der Metapher, welche paradigmatische (Ersetzungs-) Beziehungen zwischen Signifikanten herstellt – und somit dem Freudschen Prinzip der überlagernden „Verdichtung“ entspricht –, sowie der Metonymie, welche syntagmatische Beziehungen zwischen Signifikanten erzeugt (Freuds Prinzip der „Verschiebung“). Anschaulich wird dies in der Traumlogik, wo zur Umgehung der „Zensurinstanz“ Signifikant und Signifikat sich voneinander ablösen und gemäß dem Ähnlichkeitsprinzip ein Signifikant für einen anderen stehen kann (Metapher) bzw. ein Signifikant von einem benachbarten ersetzt werden kann (Metonymie).
Obwohl L. weder als Literaturwissenschaftler noch als Literaturtheoretiker gewirkt hat, ist sein Einfluss auf Theoriebildung und Interpretationspraxis in der Literaturwissenschaft beachtlich. Sein Verdienst ist es, unter Rückgriff auf Sprachtheorien von de Saussure und Jakobson die psychoanalytischen Entwicklungsmodelle und Subjekttheorien Freuds aus einer zeichentheoretischen Perspektive heraus neu formuliert zu haben.

LANG, Hermann: Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1998.

HIEBEL, Hans : Strukturale Psychoanalyse und Literatur (Jacques Lacan). In: Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Neue Literaturtheorien. Opladen 1997.

(T.G.)

Weitere Infos über #UniWuppertal: